Empfehlungen für Schulfahrten zu Gedenkstätten und Erinnerungsorten

Dr. Bünyamin Werker

Menschenrechte und Demokratie sind keine Selbstverständlichkeit, sondern müssen gelebt, verteidigt und immer wieder neu gelernt werden. Auch in demokratischen Gesellschaften werden Grundrechte nicht ausnahmslos akzeptiert und sind Minderheiten nicht immer vor Diskriminierung geschützt. Demokratische Bildung und Menschenrechtsbildung sind deshalb zwingender Auftrag an jede demokratische Gesellschaft.

Erinnerungskultur und historisch-politische Bildung sind Eckpfeiler dieser Bildung!

Wenngleich Vielfalt für die meisten Menschen ein schützenswertes Gut ist, werden Unterschiede innerhalb der Gesellschaft nicht selten dazu benutzt, Ab- und Ausgrenzungen zu begründen. Das gemeinschaftliche Erinnern an vergangenes Unrecht schärft den Blick für heutige Formen der Diskriminierung. Es leistet damit einen wichtigen Beitrag zu einer Kultur der Anerkennung und des respektvollen Miteinanders.

Die Gedenkstätten und Erinnerungsorte im In- und Ausland stehen für eine große Vielfalt. Sie unterscheiden sich z. B. hinsichtlich ihres ursprünglichen historischen Ortes, ihrer Entstehung und Entwicklung, Institutionalisierung und fachlichen Schwerpunktsetzung. Dabei sind sie selbst und ihre Geschichte auch Spiegel gesellschaftlicher Deutungskämpfe um Perspektiven, Themen und Fragestellungen im Umgang mit der Vergangenheit. Mitunter durch großes bürgerschaftliches Engagement entstanden, sind sie insgesamt Teil einer Kultur der Vielfalt. Als Erinnerungs- und Gedenkorte, Dokumentations- und Begegnungszentren ermöglichen sie nicht nur vielfältige Formen des Gedenkens an die Opfer und das an ihnen verübte Unrecht, sondern tragen darüber hinaus zu einer Vergewisserung über ethische und demokratische Grundwerte in der heutigen Gesellschaft bei. Sie stehen für eine lebendige Kultur des Erinnerns, die zur Beteiligung auffordert, indem sie den Blick auf das Vergangene auch an gegenwärtigen Fragen und Problemen ausrichtet. Die Orientierung an den Erfordernissen der Gegenwart und der Zukunft macht die Gedenkstätten zu Orten einer reflexiven, multiperspektivischen und transnationalen Erinnerungskultur.

Damit bieten Gedenk- und Erinnerungsorte vielfältige Möglichkeiten für das außerschulische Lernen:

  • Lerngruppen können ihr bislang erarbeitetes historisches Wissen vertiefen,
  • Besucherinnen und Besucher können sich über Ablauf, Struktur und Akteurinnen und Akteure der Verfolgung, Entrechtung und Ermordung der Opfer politischer Gewaltherrschaft informieren,
  • die Lernenden erkunden die Erinnerungsorte durch Begehung mit allen Sinnen,
  • sie lernen gegenwärtige Formen der Gedenk- und Erinnerungskultur kennen,
  • sie haben die Möglichkeit, eigene Formen der Gedenk- und Erinnerungskultur zu erarbeiten und umzusetzen.

Solches Lernen ist anschlussfähig gegenüber den aktuellen Kernlehrplänen z. B. für die Fächer Geschichte und Gesellschaftslehre, in denen u. a. die »reflektierte Teilhabe an der Geschichts- und Erinnerungskultur« als Ziel des historischen Lernens genannt ist. Auch stellen die KMK-Empfehlungen »Erinnern für die Zukunft« (2014), »Demokratiebildung« und »Menschenrechtsbildung« (2018) die Bedeutung der Erinnerungskultur für das schulische Lernen heraus. Betont wird dabei auch das Potential außerschulischer Lernorte.

Um diese Potentiale zu nutzen, ist es unabdingbar, die geplante Gedenkstättenfahrt in ein pädagogisches Konzept einzubetten, das mehrere Phasen umfasst:

Vorbereitung

Eine inhaltliche Vorbereitung der Gedenkstättenfahrt ist für einen fruchtbaren und nachhaltigen Lernprozess unumgänglich. Neben der möglichen Fokussierung auf bestimmte Themen oder Zugänge ist es hilfreich, wenn bereits historische Grundkenntnisse im Unterricht erarbeitet werden. Hierzu könnten z. B. folgende Themengebiete nützlich sein:

  • Grundkenntnisse über den historischen Ort der Gedenkstätte / des heutigen Erinnerungsortes
  • »Etappen« und Praxis der Ausgrenzung und Verfolgung von Opfergruppen
  • mit Bezug zur Zeit des Nationalsozialismus: das System der nationalsozialistischen Lager
  • in Grundzügen: Geschichte des Ersten/Zweiten Weltkriegs bzw. der DDR

Diesbezüglich empfiehlt es sich außerdem, den Gedenkstättenbesuch mit den Pädagoginnen und Pädagogen der Gedenkstätte im Vorfeld abzusprechen. Dies dient insbesondere dazu, eigene Erwartungen und Erwartungen der Schülerinnen und Schüler an den Besuch der Gedenkstätte zu thematisieren, sich über das Bildungsangebot zu informieren, Themenvertiefungen zu vereinbaren und die jeweiligen Gruppenkonstellationen z. B. hinsichtlich Vorkenntnissen und Gruppengröße abzuklären. Dies hilft den Pädagoginnen und Pädagogen vor Ort, der Lerngruppe ein möglichst an ihrem Vorwissen und ihren Bedürfnissen anknüpfendes Bildungsangebot zu erstellen.

Außerdem sollten bei der ausgewählten Gedenkstätte Informationen über das angemessene Verhalten am Lernort eingeholt werden. Diese von vielen Gedenkstätten und Erinnerungsorten entwickelten Regeln eignen sich auch sehr gut als Lerngegenstand im Unterricht. Auch kann das Gespräch mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der Vorbereitung dienen und die Motivation der Schülerinnen und Schüler steigern, sich auf den Lernort Gedenkstätte bzw. Erinnerungsort einzulassen.

Der Gedenkstättenbesuch

Auch der eigentliche Besuch der Gedenkstätte weist unterschiedliche Phasen auf, die zu berücksichtigen sind:

Am Anfang geht es darum, dass sich die Schülerinnen und Schüler auf dem Gelände der Gedenkstätte orientieren. Hier wird oft seitens der Gedenkstätten ein Rundgang über das Gelände mit anschließender Führung durch eine der historischen Ausstellungen angeboten.

Nach dieser Orientierungsphase folgt eine Vertiefungsphase, in der die Schülerinnen und Schüler Themenschwerpunkte bearbeiten, die vorher mit der Gedenkstätte abgesprochen wurden. Interessante Themenschwerpunkte sind z. B.:

  • die Ortsgeschichte im historischen Kontext der Gewaltherrschaft
  • Akteurinnen und Akteure und ihre Handlungsoptionen, z. B. Opfer sowie Täterinnen und Täter, Helfende, Menschen im Widerstand
  • die vergangenheitspolitischen oder gedenkstättenpädagogischen Intentionen und Fragestellungen der Gedenkstätte
  • Lagergeschichte und Häftlingsalltag
  • einzelne Opfergruppen

Die thematische Schwerpunktsetzung hängt neben den zuvor erarbeiteten Unterrichtsinhalten auch von der Geschichte des besuchten Ortes ab: Ist es ein ehemaliges Konzentrationslager, ein Täterort, z. B. eine NS-Schulungsstätte, ein Dokumentationszentrum oder eine Kriegsgräberstätte? Jeder Ort eröffnet besondere Erkenntnisse und Lernchancen.

Zum Ende des Besuchs sollte schon eine erste Form der Nachbereitung erfolgen. Hier können die Schülerinnen und Schüler ihre Erfahrungen und ihr erarbeitetes Wissen reflektieren, meist im moderierten Austausch mit Mitarbeitenden des Erinnerungsortes. Meist ist es sinnvoll, solche Reflexionsphasen während des gesamten Besuches punktuell einzuflechten. Dabei sollte Schülerinnen und Schülern auch Raum gegeben werden, in einen Austausch über Gefühle und individuelle Fragen zu kommen. Die emotionale Herausforderung, die die konkrete Begegnung mit einem Ort politischer Gewaltherrschaft oder Verbrechenspraxis für Schülerinnen und Schüler darstellen kann, muss pädagogisch und fachlich begleitet werden.

Nachbereitung

Die Nachbereitung im Anschluss des Gedenkstättenbesuchs ist ein weiteres wichtiges Merkmal gelungener und gut geplanter Schulfahrten zu Gedenkstätten und Erinnerungsorten. Im Unterricht können beispielsweise weitere Themenvertiefungen vorgenommen werden, durch

  • Verknüpfung des Themas mit Erinnerungsorten in der lokalen Umgebung der Schule,
  • die Erstellung eines digitalen Lernangebots zur Erschließung von Erinnerungsorten in der Region (z. B. mit Unterstützung der Bildungs-App BIPARCOURS von Bildungspartner NRW),
  • die Erstellung eines Wikis oder Videos zu den erarbeiteten Themenvertiefungen,
  • eine künstlerische Intervention mit anschließender Ausstellung, z. B. an einem Projekttag in der Schule,
  • Beteiligung mit einem eigenen Beitrag an einem zentralen Gedenktag, wie dem Holocaust-Gedenktag, dem 9. November oder dem Volkstrauertag.

Durch handlungsorientierte und kreative Formen der Nachbereitung können Lernende so selbst zu Akteurinnen und Akteuren einer aktiven Erinnerungskultur werden.

Methoden

Um den Schülerinnen und Schülern vielfältige Aneignungsmöglichkeiten an die Geschichte(n) der deutschen Gewaltherrschaft zu bieten, empfiehlt es sich, möglichst unterschiedliche Vermittlungsmethoden in die vorgestellten Phasen der Gedenkstättenfahrt zu integrieren, z. B. Lernen anhand von Biografien, Gespräche mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen oder künstlerische Arbeitsformen. Dabei sollten die Lehrkräfte die für die Geschichtsbilder heutiger Jugendlicher prägenden Quellen (digitale Medien, Comics, Filme, Dokumentationen) und Rezeptionsweisen berücksichtigen.

Außerdem zu bedenken:

Obwohl die personellen und finanziellen Mittel zur Planung und Durchführung einer Gedenkstättenfahrt oft begrenzt sind, ist eine mehrtägige Fahrt sehr gewinnbringend. Im Übrigen gibt es auch in Nordrhein-Westfalen eine Vielzahl von unterschiedlichen NS-Gedenkstätten und Erinnerungsorten mit Bildungsangeboten, die sich sehr gut für erinnerungskulturelles Lernen eignen. Schülerinnen und Schüler können in ihrem konkreten lokalen Umfeld eine breite Palette unterschiedlicher Themen und Formen regionaler Erinnerungskultur entdecken. Erinnern im Nahraum verdeutlicht, dass der Nationalsozialismus und die durch Deutsche begangenen Verbrechen „vor unser aller Haustüre“ ihren Ausgang nahmen und/oder stattfanden. Der lokale Bezug von Orten und Lebensgeschichten unterstützt Lernende dabei, sich dieser mitunter fernen Vergangenheit anzunähern, sie zu konkretisieren und zu verstehen.

Die Gedenkstättenfahrten sollten im Sinne des Beutelsbacher Konsenses erfolgen. Dies bedeutet auch, Abstand zu nehmen von dem Ziel, mit der Gedenkstättenfahrt bei Schülerinnen und Schülern Betroffenheit erzeugen zu wollen. In der Regel berührt ein Gedenkstättenbesuch alle Schülerinnen und Schüler auf eine stets individuelle Art und Weise. Dies muss nicht gezielt erzeugt werden. Eine gute Gedenkstättenfahrt zeichnet sich dadurch aus, dass die Schülerinnen und Schüler möglichst vielfältige Angebote bekommen, um den erlebten Emotionen Ausdruck verleihen zu können.

Im Rahmen der Gedenkstättenfahrt sollten die Lehrkräfte Sprech-, Denk- und Handlungsräume öffnen. Die Schülerinnen und Schüler dürfen auch »fehlinterpretieren«, dürfen, ja sollen ihre Geschichtsbilder und biografischen Erfahrungen mit der öffentlichen Erinnerungskultur einbringen.

Unüberschreitbare Grenzen bilden dabei die Verherrlichung des Nationalsozialismus und Volksverhetzung. Gegenüber antidemokratischen oder rassistischen Äußerungen darf sich eine Lehrkraft nicht gleichgültig oder neutral verhalten. Sie müssen mindestens Anlass für eine klare Stellungnahme sein und können auch am Anfang eines Lernprozesses stehen. Viele Gedenkstätten bieten hinsichtlich des Setzens und Einhaltens von Grenzen Unterstützung an. Der Schutz Betroffener und der klare Wertebezug historisch-politischer Bildungsarbeit in einer freiheitlichen Demokratie sind unabdingbar.

Die Vergangenheit von Krieg und Diktatur geht alle etwas an. Die NS-Massenmorde an Jüdinnen und Juden, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, Menschen mit Behinderung und anderen Opfergruppen waren ein Menschheitsverbrechen, das weit über die Grenzen des heutigen Deutschlands hinaus seine Auswirkungen hatte. Im Kontext unserer vielfältigen migrationsgeschichtlich geprägten Gesellschaft sollte diese Geschichte nicht als »Nationalgeschichte« erzählt werden. Gedenkstätten und Erinnerungsorte bieten viele Möglichkeiten, Zugänge und Erfahrungsräume für alle Schülerinnen und Schüler zu schaffen. Damit ist Bildung an diesen historischen Orten Teil einer demokratischen Bildung für die heutige Gesellschaft, deren Geschichte alle etwas angeht und alle zur Teilhabe befähigt.

Literaturtipps:

Ahlheim, Klaus u. a. (2004): Gedenkstättenfahrten. Handreichung für Schule, Jugend- und Erwachsenenbildung in Nordrhein-Westfalen. Schwalbach/Ts.: Wochenschau. (Hierbei handelt es sich um einen Klassiker zur Vorbereitung auf eine Gedenkstättenfahrt. Sicherlich sind die Informationen zu den Gedenkstätten und ihren Bildungsangeboten nicht mehr aktuell. Die Handreichung stellt aber nützliche Tipps zur Planung von Gedenkstättenfahrten bereit. Die Informationen zu den Gedenkstätten lassen sich über die Website www.ns-gedenkstaetten.de schnell aktualisieren).

Gryglewski, Elke u. a. (Hrsg.) (2015): Gedenkstättenpädagogik. Kontext, Theorie und Praxis der Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen. Berlin: Metropol. (Dieser Sammelband gibt Einblick in die vielfältige pädagogische Arbeit von Gedenkstätten. Er beleuchtet auch gegenwärtige Debatten im gedenkstättenpädagogischen Diskurs).

Rathenow, Hanns-Fred / Wenzel, Birgit / Weber, Norbert H. (Hrsg.) (2013): Handbuch Nationalsozialismus und Holocaust. Historisch-politisches Lernen in Schule, außerschulischer Bildung und Lehrerbildung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag. (Diese Publikation gibt viele Impulse für die praktische Bildungsarbeit zur Geschichte des Nationalsozialismus. Grundlegende theoretische Texte werden ergänzt durch methodische Anregungen sowie persönliche Erfahrungsberichte und Projektdarstellungen).

Ritscher, Wolf (2013): Bildungsarbeit an den Orten nationalsozialistischen Terrors. „Erziehung nach, in und über Auschwitz hinaus“. Weinheim/Basel: Beltz Juventa. (Dieses Werk bietet einen guten Einblick in die Bildungsarbeit an Orten der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus).

Sternfeld, Nora (2013): Kontaktzonen der Geschichtsvermittlung. Transnationales Lernen über den Holocaust in der postnazistischen Migrationsgesellschaft. Wien: Zaglossus. (In diesem Band entwickelt die Autorin ein Instrumentarium für die Vermittlung von NS-Geschichte im Kontext der Migrationsgesellschaft. Dabei werden auch künstlerische Vermittlungsmethoden vorgestellt).

Werker, Bünyamin (2016): Gedenkstättenpädagogik im Zeitalter der Globalisierung. Forschung, Konzepte, Angebote. Münster: Waxmann. (Die Arbeit ist eine umfassende und aktuelle Darstellung der Gedenkstättenarbeit, ihrer pädagogischen Konzeptionen und Entwicklungen im Kontext gesellschaftlicher Veränderungen. Vor allem die Analyse theoretischer Bezüge und Reflexionen trägt bei der Lektüre zum Verständnis der Gedenkstättenpädagogik bei und hilft bei der Bewertung bestehender Lernorte).

Erstellt von:
Dr. Bünyamin Werker
Studienrat im Hochschuldienst
Universität zu Köln
Professur Erziehungswissenschaft
Gronewaldstr. 2, 50931 Köln

Bildungspartner NRW ist eine vertragliche Zusammenarbeit des Ministeriums für Schule und Bildung des Landes NRW und der Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe.